Liebe Schülerinnen und Schüler!
Was soll ich sagen über Chemnitz? Was soll ich sagen über die schrecklichen Dinge, die dort geschehen sind? Ein Mann wurde getötet. Erstochen. Die Polizei ermittelt und findet den Täter schnell. Er war Syrer oder Iraker, ein Ausländer jedenfalls. Ist das wichtig, woher er stammt? Eigentlich nicht. Wichtig ist doch, dass die Polizei ihn verhaftet hat, das Gericht über seine Schuld urteilen und ihn bestrafen wird. So sollte es sein in einem demokratischen Rechtsstaat. So hat man uns das gelehrt.
Aber so ist es nicht in Chemnitz in diesem Sommer. Als bekannt wurde, dass der Täter ein Ausländer war, läuft eine wütende Volksmenge zusammen und demonstriert gegen alle, die keine Deutschen sind. Sie brüllen, beschimpfen und bedrohen alle Fremden. Der Tod des Mannes liefert ihnen nur den Vorwand. Sie kennen ihn gar nicht. Sein Schicksal ist ihnen egal. Jetzt, so meinen sie, können sie ihren Hass auf Migranten ungestraft zeigen. Jetzt, denken sie, können wir die Fremden, die wir hassen, verfolgen und aus der Stadt vertreiben. Viele zeigen den Hitlergruß. Und die Polizei kann das kaum stoppen. Und die sächsische Regierung scheint ziemlich ratlos, was sie machen soll.
Wer schützt uns vor diesen Nazis? Wie wird es weitergehen? Wie können wir hier in Zukunft zusammenleben? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Viele von euch haben in der letzten Zeit alle auch hier in Leipzig schlechte Erfahrungen gemacht. Auf Ämtern oder bei der Wohnungssuche wurdet ihr diskriminiert, von Lehrern oder Mitschülern schlecht behandelt, auf der Straße oder in der Bahn beleidigt… Ihr fragt euch manchmal: Wie soll ich mich da integrieren? Oder sogar: Warum soll ich mich überhaupt in diese Gesellschaft integrieren, wenn die Deutschen uns so stark ablehnen?
Schnell sagt man DIE DEUTSCHEN sind so. Ich verstehe das. Aber das ist auch nicht richtig. Die Trennung besteht nicht zwischen Ausländern und Deutschen, sondern zwischen den Menschen, die guten Willens sind und denen, die Hass und Streit wollen.
Wie also können wir jetzt weitermachen? – Ganz einfach: Wie bisher. Indem wir weiter gemeinsam lernen, uns gegenseitig unterstützen, das Gemeinsame betonen und dabei natürlich auch unsere Unterschiede respektieren. Ich glaube daran, dass Gott uns hier in Leipzig zusammen-geführt hat. Es ist kein Zufall, dass wir alle gemeinsam an diesem Ort sind. Ich bin der Meinung, jeder und jede von Euch gehört hierher, gehört zu uns. Und da spreche ich nicht nur für mich, sondern auch für alle unsere deutschen Lehrkräfte: Anja und Jörg, Sebastian und Anneliese, Astrid und Markus, Stefan und Sabine, Hubert und all die anderen.
Es wird nicht genug sein, gemeinsam zu lernen. Wir werden kämpfen müssen, um unseren Platz in dieser Gesellschaft, um Anerkennung und Gleichberechtigung für alle, um die Demokratie. Wir werden mit Beharrlichkeit und mit friedlichen Mitteln dafür kämpfen, dass jeder von Euch sich hier ein gutes Leben aufbauen kann. Ich habe die Hoffnung, dass nach den Ereignissen in Chemnitz, viele der bisher passiven Deutschen aufwachen und endlich aktiv für die Demokratie und die Werte unserer Verfassung eintreten.
Herzliche Grüße
Daniel Fickenscher